Japaner und die German Angst

Toru Kumagai

Studiengesellschaft fuer Mittelstandsfragen

11. November 2011, Grosshartpennig

1                    Einleitung

Meine sehr geehrte Damen und Herren,

ich moechte mich herzlich bedanken, dass Sie mir eine Gelegenheit gegeben haben, hier einen Vortrag zu halten. Es ist eine grosse Ehre fur mich.

Ich stelle mich kurz vor. Ich bin in Tokio geboren und habe in Japan Volkswirtschaftswissenschaften studiert.

Ich habe 8 Jahre beim japanischen oeffentlich-rechtlichen Fernsehsender NHK gearbeitet. Als Fernsehreporter habe ich nicht nur in Japan, sondern auch in Deutschland, Polen, der damaligen Sowjetunion, in den USA und Nahost recherchiert.

Seit 21 Jahren arbeite ich in Muenchen als freiberuflicher Journalist fur verschiedene japanische Medien. Ich habe bisher 11 Buecher ueber Deutschland auf Japanisch veroeffentlicht.

Ich schreibe gerade mein zwoelftes Buch. Es geht um die Reaktion der Deutschen auf den Atomunfall in Fukushima, Atomausstieg in Deutschland und den Unterschied vom Risikobewusstsein zwischen Deutschland und Japan.

2  Reaktion auf Fukushima

In diesem Buch habe ich mich mit der folgenden Frage auseinandergesetzt: ?Warum hatten viele Deutsche grose Angst nach Fukushima ?g

Erstens war Fukushima der erste Atomunfall in der Geschichte, der fast in Echtzeit direkt ins Wohnzimmer uebertragen wurde.

Deutsche Medien haben die Bevoelkerung mit den pessimistischen und angstschuerenden Berichterstattungen ueberschuettet. Ich habe die Schlagzeilen wie ?Apokalypseg und ?Horror-AKWg gesehen. Ein Zeitungsjournalist hatte die Frage gestellt: Wann erreicht uns die Radioaktivitaet von Fukushima ? In der ersten Woche nach dem Unfall hatte man schon den Eindruck, als ob das ganze Japan hochradioaktiv kontaminiert geworden waere.  Selbst einige deutsche Japan-Kenner waren entsetzt.

Viele Japaner, die in Deutschland wohnen, wurden von den pessimistischen Berichterstattungen der deutschen Medien schockiert. Manche Bilder und ihre Erklaerungen waren tatsaechlich falsch und irrefuehrend. Das Titelbild und die Erklaerung dazu in der Sueddeutschen Zeitung vom 16. Maerz war ein Beispiel dafuer. Wir waren erstaunt, dass viele Deutsche nach Fukushima Geigerzaehler und Jodtabletten gekauft haben.

Einige von meinen japanischen Bekannten in Tokio waren erstaunt, weil ihre deutschen Freunde ihnen mit e-mail empfohlen haben, dringend Japan zu verlassen. Manche Deutsche haben den Japanern sogar die Unterkunft bei ihnen in Deutschland angeboten. Meine japanischen Bekannten haben viele auslaendische Freunde in verschiedenen Laendern, aber es waren nur die Deutschen, die ihnen solche Evakuierungsempfehlung geschickt haben.

Die Deutsche Schule bei Tokio musste kurz nach Fukushima geschlossen werden, weil viele Lehrer Japan verlassen haben. Die Schule blieb 8 Wochen geschlossen. Das war die einzige Schule im Tokio-Gebiet, die nach dem Atomunfall so lange geschlossen blieb.

Haben diese Reaktionen mit der irrationalen German Angst zu tun? Meines Erachtens, nicht ganz.

Ich habe eher Verstaendnis dafuer, dass die Deutschen auf Fukushima so reagiert haben. Es gibt mehrere Gruende.

Erstens haben die Deutschen in 1986 die Kontaminierung des Bodens und der Lebensmittel nach dem Atomunfall von Tschernobyl erlebt. Damals gab es 9 Tage nach dem Unfall keine offizielle Warnung vom Staat. Deswegen gehen viele Deutsche davon aus, dass sie kurz nach einem Atomunfall keine konkreten Informationen von der Regierung bekommen, auch wenn die radioaktive Wolke ueber das Land zieht. Fukushima muss bei viele deutschen Buergern und Journalisten die Erinnerung an Tschernobyl geweckt haben.

Zweitens ist diese Reaktion auf das hohe Risikobewusstsein der Deutschen zurueckzufuehren. Ich erinnere mich an die folgende Aussage von Herrn Erwin Huber in einer Fernsehdiskussion nach Fukushima: Wir sind risikobewusst wie sonst kein Land.

Ich teile vollkommen seine Meinung. Ich finde die Deutschen viel pessimistischer und risikobewusster als die Japaner. Ihre Grundstimmung ist oft von Zukunftsangst gepraegt.

Einer Umfrage von Friedrich Ebert Stiftung in 2006 zufolge haben 63% der Befragten geantwortet, dass die gesellschaftlichen Veraenderungen Angst machen.(1)

Angst ist oft als negatives Gefuehl gesehen, aber es hat auch positive Seiten.

Meines Erachtens ist die Angst ein Fruehwarnsystem gegen Gefahr und Bedrohung. Die Angst ist eins der urspruenglichsten Gefuehle, das im aeltesten Teil unseres Gehirns entsteht. In Deutschland gibt es Sprichwort, Angst verleiht Fluegel. Wegen Angst koennen wir damit anfangen, etwas gegen Risiken zu tun. Angst ist der erste Schritt fur das Risiko-Management.

Woher kommen die Angst und der Pessimismus der Deutschen ? Eine Theorie sagt, dass es  auf kollektive Erinnerungen an verschiedenen Katastrophen und Elenden in der Vergangenheit zurueckzufuehren ist, die Deutschland heimgesucht haben. Die Pest im Mittelalter, der Dreissigjaehrige Krieg, die Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg, die Verwuestung der deutschen Staedte durch die Luftangriffe und Bodenkaempfe sind Beispiele. Manche Forscher vermuten, dass das latente Gedaechtnis von Generation an Generation weitergegeben wurde und den Gefahrsinn der Deutschen verschaerft haette.

Andere Forscher begruenden German Angst mit der gluecklichen Situation der Deutschen, dass sie nicht mit einer akuten Existenzgefahr bedroht sind und relativ wenig Sorgen haben. Dabei berufen sie sich auf das sogenannten Weber-Fechner Gesetz. Der deutsche Physiologe Ernst Heinrich Weber hat im 19. Jahrhundert entdeckt, dass ein Sinnorgan erst ab einem bestimmen Intensitaetsgrad die Aenderung des Reizes bemerkt.

Zum Beispiel nehmen wir an, dass jemand einen Gegenstand in der Hand traegt. Man spuert die Zunahme des Gewichts, erst wenn die Gewichtszunahme 3% des bestehenden Gewichts uebersteigt. Wenn jemand einen Gegenstand von 500 Gramm traegt, bemerkt er die Veraenderung, wenn das Gewicht um 15 Gramm steigt. Wer einen Gegenstand von 5000 Gramm traegt, bemerkt er die Gewichtszunahme, erst wenn das Gewicht um 150 Gramm zunimmt.

Das bedeutet folgendes: je weniger Reiz man ausgesetzt ist, desto empfindlicher spuert man die kleinste Aenderung des Reizes. Wer von Hungernot bedroht ist, reagiert nicht so empfindlich auf einen Stich von Muecke wie jemanden, die keine Sorgen um Lebensmittel haben. Weil die Deutschen heute wenig Gefahr und Bedrohung ausgesetzt sind, reagieren sie scharf auf jedes kleinste Gefahrpotential.

Wie sehen die Japaner die deutsche Reaktion auf Fukushima ?

In Japan steigt das Interesse am Atomausstieg in Deutschland. Viele Japaner sind ueberrascht, dass der deutsche Bundestag und der Bundesrat schon 4 Monate nach Fukushima entschieden haben, bis 31. Dezember 2022 alle Atomkraftwerke auszuschalten. Es ist zum Teil darauf zurueckzufuehren, dass viele Japaner die Vorgeschichte, naemlich das erste Atomausstiegsgesetz von 2002 nicht kennen.

Japanische Stromwirtschaft und Industrieunternehmen fragen sich, ob der Atomausstieg die Wettbewerbsfaehigkeit von Deutschland nicht gefaehrdet.

Auf der anderen Seite haben immer mehr Japaner Angst ueber die radioaktive Kontamination vom Boden und Lebensmittel. Vor allem die Intellektuellen, die die Informationen aus dem Ausland lesen koennen, sind zunehmend verunsichert. Sie schenken der Regierung und dem Betreiber der havarierten Reaktoren wenig Vertrauen. Einer Umfrage von der japanischen Zeitung ?Mainichig im August zufolge befuerworteten 74% der Befragten eine schrittweise Reduzierung von Atomenergie.

Aber nur 11% wuenschten sich einen sofortigen Ausstieg. (2)

Viele Japaner sind ueber den Atomausstieg im eigenen Land zurueckhaltend, weil wir keinen Strom aus dem Ausland importieren koennen.

Selbst in Japan gibt es eine vorsintflutliche Einschraenkung. Wegen des Unterschieds von Frequenz kann der Ostteil des Japans keinen Strom aus Westjapan benutzen. Bei meinem Vortrag in Tokio haben einige japanische Zuhoerer den deutschen Atomausstieg als scheinheilig kritisiert, weil Deutschland immer noch den Atomstrom aus Frankreich und der Tschechei importiert. Viele Japaner haben sich gewundert, dass Bundeskanzlerin und konservative Parteien nach Fukushima ihre Meinungen zur Atomenergie ploetzlich geaendert haben, weil sie letztes Jahr die Laufzeit der Reaktoren verlaengert hatten.

Ich persoenlich kann diese Kehrtwende nachvollziehen, weil Fukushima ein Paradigmenwechsel war.  Von vielen Deutschen habe ich gehoert, dass sie eine Katastrophe von diesem Ausmas in einem Hochtechnologie-Land wie Japan nicht fur moeglich hielten. Ich bedaure es sehr, dass das Vertrauen von vielen Deutschen in die japanische Technologie verloren gegangen ist. Ich finde die Energiewende ehrgeizig aber sinnvoll, weil Deutschland technologischer Vorreiter in Effizienzsteigerung und regenerativer Energie werden koennte. Wenn Deutschland wirklich schafft, den Anteil von erneuerbaren Energie auf 80% in 2050 zu erhoehen, hat die German Angst vor Atomenergie eine positive Rolle gespielt. Dann hat die Angst wirklich Fleugel verliehen.

3  Demographische Aenderungen

Atomenergie ist nicht die einzige Quelle von Angst. Eine andere Sorge ist die demographische Aenderung.

Einer Umfrage von Friedrich Ebert Stiftung in 2006 zufolge sagten fast 40% der Befragten, dass sie im Alter auf Sozialhilfe angewiesen sind. (3)

Ein langes Leben sollte eigentlich etwas Erfreuliches sein. Aber heute muss man uns die Frage stellen, wie wir im Alter die Lebensstandard und die Wettbewerbsfaehigkeit der Gesellschaft aufrechterhalten soll.

Die Deutschen haben eigentlich weniger Grund als Japaner, Angst vor langem Leben zu haben, weil das deutsche Sozialnetz viel engmaschiger als das japanische ist. In Japan fehlt die traditionelle Infrastruktur fuer Pflege wie zum Beispiel die christlichen Organisationen in Deutschland. Es ist viel schwieriger als in Deutschland, auslaendische Pflegekraefte mit Sprachkenntnis fur haeusliche Pflege zu finden. In vielen bezahlbaren Pflegeheimen gibt es nur Mehrbettenzimmer.

In Japan gibt es gesetzliche Grundrente fur die Selbstaendige oder Zeitarbeiter. Dem japanischen Arbeitsministerium zufolge ist der Anteil der Zahlungspflichtigen der gesetzlichen Grundrentenversicherung, die keinen Beitrag einzahlen,  in 2010 auf das Rekordhoch von 40,7% gestiegen. (4)

Es ist besorgniserregend, weil 38% der japanischen Erwerbstaetigen kein festes, langfristiges Arbeitsverhaeltnis, sondern ein irregulaeres, befristetes Arbeitsverhaltnis wie Leiharbeit haben. Laut dem Arbeitsministerium verdient mehr als die Haelfte der japanischen Erwerbstaetigen im irregulaeren Arbeitsverhaeltnis nicht genug Geld, um das alleine alltaegliche Leben zu finanzieren. Bei jedem fuenften maennlichen Erwerbstaetigen zwischen 25 und 29 Jahren ist das Einkommen so niedrig, dass sie auf die Hilfe von Eltern angewiesen sind.(5)

Das japanische gesetzliche Rentensystem ist vom Zusammenbruch bedroht.

4  Schuldenkrise

Ein anderes Thema: EURO. Jedes Mal wenn ich mit meinen deutschen Bekannten spreche, spuere ich, dass Ihnen die Schuldenkrise in Europa im Moment die groesste Sorge macht. Ich verstehe die Angst der Deutschen, weil ich ueber die Europaeische Wahrungsunion seit 1992 recherchiere. Ich weiss, dass Sie einen grosen Wert auf eine stabile Wahrung legen, weil die bittere Erfahrung der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg noch im kollektiven Gedaechtnis der Deutschen sitzt.

Ich war erstaunt, dass die No-bail-out Klausel im Maastricht-Vertrag, die Uebernahme der Haftung durch ein anderes EU-Mitglied verboten hatte, durch verschiedene Rettungspakete praktisch ausser Kraft gesetzt wurde. Ich finde es besorgniserregend, dass die Europaeische Zentralbank die Staatsanleihe der Schuldensunder kauft und langsam die Rolle einer Staatsfinanzierungsbank ubernimmt.

In den 90er Jahren habe ich von den Beamten vom Finanzministerium in Bonn gehoert, dass Deutschland durch die Einfuehrung des Euros die Stabilitaetskultur in andere EU-Laender exportieren wollte. Es ist leider nicht gelungen.

Ein grosses Problem ist meines Erachtens der Unterschied der Wahrnehmung in der EU. Die Suedlaender denken, dass Deutschland dank Einfuehrung des EURO einen grossen Handelsueberschuss ansammeln konnte.Deswegen sei es selbstverstaendlich, dass die Deutschen den Suedeuropaeern  unter die Arme greifen, denken die Suedlaender.

Ich habe den Eindruck, dass sich viele Bundesbuerger der Tatsache nicht bewusst sind, dass Deutschland von der Europaeischen Waehrungsunion am meisten profitiert. Im Gegenteil. Viele Deutsche sind veraergert, dass sie einem Land helfen muessen, das 2001 durch geschoente Haushaltsdaten den Euro-Beitritt erschwindelt hat.

In Japan ist das Interesse an diesem Thema in den letzten Monaten erheblich gestiegen. Es ist zum Teil darauf zurueckzufuehren, dass auch Japan einen riesengrossen Schuldenberg hat.

Dem japanischen Finanzministerium zufolge betrug letztes Jahr die Schuldenquote, also das Verhaeltnis von oeffentlichen Schulden zum Bruttoinlandsprodukt, 134%. Es war hoeher als die Schuldenquote von Italien. Die Schuldenquote von Deutschland betrug Ende letzten Jahres 83%. In Griechenland war es ungefaehr 143%.

Das japanische Finanzministerium schaetzt, dass die Schuldenquote am Ende des laufenden Fiskaljahres auf 138% steigen wird.(6)

Der kumulierte Schuldenberg wird um 4% im Vergleich zu Vorjahr auf 668 Billionen Yen (6,1 Billionen Euro) steigen. Es ist 16 Mal so hoch wie die Steuereinnahme im Jahr 2011. Die japanische Regierung hat sich 3 Mal so viel wie die Bundesregierung verschuldet. Wenn wir diese Schulden auf alle Japaner verteilen, betragen die Schulden pro Kopf ca. 5 Millionen Yen, oder 48.000 Euro.   

Im Vergleich zu den Griechen oder Portugiesen ist die japanische Regierung eher gelassen. Es liegt daran, dass 95 % der japanischen Staatsanleihe von den japanischen Investoren, hauptsaechlich von Banken, gekauft werden. Ausserdem hat Japan ein hohes Sparvermoegen. Die Kosten fur den Wiederaufbau vom Katastrophengebiet koennen wir nur durch weitere Verschuldung decken.

Aber immer mehr Japaner fragen sich, wie lange noch die japanische Regierung sich weiter verschulden kann. Das japanische Volk wurde von der Euro-Krise sensibilisiert. Aber ich habe Zweifel daran, dass sich die japanische Regierung ernsthaft darum bemueht, den Schuldenberg abzubauen.

Wie meine Darlegungen zeigen, haben sowohl die Deutschen als auch die Japaner einige Quellen von Sorgen. Meines Erachtens hat die Angst manchmal ihr Gutes, weil es die Diskussionen und die Gegenmassnahmen ausloest.

In diesem Sinne freue ich mich auf eine rege Diskussion mit Ihnen. Vielen Dank fuer Ihre Aufmerksamkeit.

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Quellennachweise

(1)   Friedrich Ebert Stiftung ?Gesellschaft im Reformprozessg Februar / Marz 2006

(2)   Mainichi Zeitung vom 22. August 2011

(3)   Friedrich Ebert Stiftung ?Gesellschaft im Reformprozessg Februar / Marz 2006

(4)   Japanese Ministry for Health Labor and Welfare,

Labor Statistics http://www.mhlw.go.jp/toukei/list/images/5-22b-38.gif

(5)   Japanese Ministry for Health Labor and Welfare,

Labor Statistics http://www.mhlw.go.jp/toukei/list/images/5-22b-38.gif

(6)   Japanese Ministry of Finance

http://www.mof.go.jp/tax_policy/summary/condition/004.htm